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14 Octubre 2015

Im Gespräch: Andrea Riccardi, Gründer der katholischen Gemeinschaft Sant’Egidio und Träger des Karlspreises

„Ohne Einwanderung vergreist Europa“

 
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Professor Riccardi, bei der Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen sprachen Sie im Jahr 2009 von Afrika als einem Kontinent der Auswanderer und sahen voraus, dass die Auswandererströme nicht an den europäischen Grenzen und durch Kontrollen im Mittelmeer gestoppt werden könnten. Mittlerweile hat die Realität Ihre Prognose hinter sich gelassen.

Die Europäer haben eine historische Sendung – hatten. Nachdem sie die Welt erobert hatten, haben sie sich zurückgezogen. Man wollte keinen Einfluss mehr haben, man hatte Angst, noch mehr Fehler zu machen. Also hat man Afrika sich selbst überlassen.

Im Irak und in Libyen hat sich Europa nicht zurückgezogen, sondern geholfen, Diktatoren zu stürzen. Das ist Ihnen auch nicht recht.

Was haben westliche Mächte in Libyen angerichtet? Gaddafi war ein Diktator, ein Mörder. Aber wir sind in den Krieg gegen ihn eingetreten, ohne eine Alternative zu haben. Was ist mit dem Krieg gegen Saddam Hussein im Irak? Amerikaner, Engländer, auch Berlusconi, viele sind in den Krieg gezogen. Aber eine politische Alternative hatte der Westen nicht. Eine absolut unverantwortliche Politik.

Und in Syrien?

Die Assad-Diktatur war auch vor dem Krieg schrecklich, aber Christen und Muslime konnten miteinander leben. Als die Arabellion begann, haben wir die Zivilgesellschaft nicht unterstützt. Also hat sich die Opposition radikalisiert und militarisiert, was Assad in die Hände gespielt hat. Der Westen hat dem ohnmächtig zugeschaut und nur gewusst, was er nicht wollte: mit Russland reden.

Das scheint sich jetzt zu ändern.

Nach wie vielen Jahren? Der Krieg in Syrien dauert mittlerweile länger als der Erste Weltkrieg.Wo sind die Friedensdemonstrationen und die Lichterketten in Europa gegen den Völkermord geblieben? Nichts! Was haben die europäischen Regierungschefs getan? Nichts! Ein Danse macabre auf dem Rücken Syriens.

Deutschland wird in diesem Jahr das Ziel von womöglich einer Million Flüchtlingen, andere europäische Staaten müssen gezwungen werden, eine Handvoll Menschen in Not aufzunehmen. Ist das der Kontinent, von dem Sie 2009 sagten: „Je einiger Europa ist, um so weniger schrecklich wird die Welt sein“?

Die Migration ist eine große Chance für Europa, sich neu zu denken. Wir müssen nur endlich wieder verstehen, dass Flucht und Auswanderung nicht eine Art Ausnahmezustand sind, sondern eine Konstante der Geschichte, auch der europäischen. Wie ist es möglich, dass Länder, die bis in das 20. Jahrhundert hinein Auswanderungsnationen waren, das so schnell vergessen? Europa und Amerika sind voller Italiener und Spanier. Westeuropa hat 1956 mehrere hunderttausend Flüchtlinge aus Ungarn aufgenommen. Nach 1989 strömten Millionen Polen nach Westen. Europa hat Angst vor der Geschichte.

Zu dieser Geschichte gehört auch, dass Europa über Jahrhunderte nur dank einer Militärgrenze dem Eroberungsdrang des Osmanischen Reiches standhalten konnte.

Wir müssen auch Vertrauen haben, Vertrauen in unsere große, historisch verbürgte und christlich grundierte Identität. Wir brauchen eine starke Identität und starke Gemeinschaften, um zu integrieren.

Muss Europa nicht viel mehr als an der Aufnahme von Flüchtlingen daran gelegen sein, dass Menschen erst gar nicht zu Flüchtlingen werden?

Man muss zwei Dinge unterscheiden. Die Einwanderung ist für Europa eine Chance, die Aufnahme von Flüchtlingen eine humanitäre Pflicht. Aber: Es muss viel mehr internationale Politik gemacht werden. Frieden in Syrien, Dialog mit afrikanischen Ländern. Ich habe jüngst den Präsidenten der Elfenbeinküste gefragt: Warum verlassen so viele junge Männer Ihr Land? Dieselben Fragen stellen sich mit Blick auf Somalia und Eritrea.

Die Einwanderung ist für Europa eine Chance?

Wenn wir alle verhaften wollten, die einen Grenzzaun überwinden, dann wäre das Selbstmord mit Ansage von uns kleinen Ländern am westlichen Rand der eurasischen Landmasse. Welche andere Chance haben wir, um zu verhindern, dass Europa vergreist?

Die Erfahrung mit Einwanderung in Europa ist nicht immer und überall eine Erfolgsgeschichte gewesen.

Ich bin nicht so skeptisch, was Integration angeht. Das Problem ist nicht der vermeintliche Gegensatz Christentum–Islam. Bis in die achtziger Jahre waren unsere Gesellschaften „kommunitaristisch“. In vielen Staaten gab es Parteien, Gewerkschaften, die Kirchengemeinden waren stark. Heute sind wir eine durch und durch individualistische Gesellschaft. Der Einzelne integriert nicht, nur die Gemeinschaft. Deswegen haben auch die Kirchen eine größere Verantwortung denn je – und Deutschland.

Deutschland?

Ich schaue mit großer Sympathie auf Deutschland, vor allem auf Bundeskanzlerin Merkel. Sicher gibt es wirtschaftliche Interessen, aber es gibt auch ein Verantwortungsgefühl, das sich aus christlichen Überzeugungen speist. Deutschland ist eines der wenigen Länder in Europa, das eine Politik macht, die noch an große Ideen gebunden ist.

Welches ist die große Idee, die hinter dem „Wir schaffen das“ von Bundeskanzlerin Merkel steht?

Die Intuitionen von Bundeskanzlerin Merkel als Politikerin und von Franziskus als Papst sind dieselben: Gesellschaften müssen offen sein. In der Spätantike verheerten Völker aus dem Norden ganz Europa, das Ende des Römischen Reiches erschien als das Ende der Welt. Heute kommen die Völker aus dem Süden, viel freundlicher als damals, schon globalisiert, und wir haben die Aufgabe, sie zu integrieren. Sie sollen die Arbeit und die Freiheit lieben lernen.

Millionen Flüchtlinge setzen ihre Hoffnung aber nicht auf Europa, sondern auf Deutschland. Kann das gutgehen?

Warum ist Deutschland heute so anziehend? Ihr seid gut, ihr seid reich, ihr seid groß. Das ist der Preis des historischen Glücks und auch der Anstrengung der Deutschen. Aber sie wollen nicht nur zu euch. Ich kann es nicht mehr hören, wenn sich Völker als Opfer stilisieren. In Italien haben wir viele Ausländer und Flüchtlinge. In meiner Zeit als italienischer Minister habe ich für die Einbürgerung von 150 000 Ausländern gesorgt. Werden wir doch ein wenig wie Amerika!

Die Fragen stellte Daniel Deckers.


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