Katholischer Bischof, Deutschland
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„Die Armen sind der kostbare Schatz der Kirche: Kirche auf dem Weg zur Caritas“
Beitrag zum Friedensgebet in Barcelona am 04./05. Oktober 2010
Der Auftrag: Das Gewinnende des Glaubens profilieren
Statt uns auf moralische Verbote zu beschränken, soll es Papst Benedikt XVI. zufolge der Kirche gerade um die Mission gehen, das Gewinnende unseres Glaubens sichtbar zu machen. Das gelingt, wenn die Kirche sich ihr Profil nicht von einem ökonomischen Zeitgeist vorschreiben lässt, sondern ihr Opus Proprium konsequent bekennt und lebt (vgl. DCE 25, 29). Die Caritas gehört dazu! Vorbild dafür ist der Heilige Diakon Laurentius. Mit seinem Ausruf „Die Armen sind unser Schatz“, provozierte er Kaiser Valerian. Er erlitt dafür sein Martyrium, weil er den Armen die materiellen Reichtümer gab, die der Kaiser für sich beanspruchte. Laurentius stellte sich gegen die Konventionen, zeigte Profil mit seiner überraschenden Wertschätzung der Armen. Mit diesem Bekenntnis soll und kann die Kirche auch heute aufhorchen lassen, wenn sie für den Umgang mit den Armen die Zeichen unserer Zeit im Lichte der Liebe deutet, den ökonomisch bestimmten Zeitgeist mit einem erkennbarem Profil provoziert. Kirche gewinnt, wenn Sie glaubwürdig die Armen als ihren Schatz entdeckt, bekennt und konsequent danach lebt.
(Ich nehme zunächst kritisch die heute konventionellen Erwartungen für den Umgang mit den Armen in den Blick. Dem setze ich anschließend im Sinne der Katholischen Soziallehre unser Verständnis von Solidarität entgegen, das unbedingte Rechte und Pflichten gegenüber den Armen begründet. Abschließend stelle ich mit der von Papst Benedikt XVI. besonders betonten Wirkung der Liebe das kirchliche Profil der Solidarität vor, das sich von alternativen Deutungen abhebt und das Gewinnende unseres Glaubens glaubwürdig repräsentiert. )
Die Krise: Wenn Arme nicht willkommen sind
„In einer Gesellschaft, in der die Wirtschaft zum Maßstab des Urteilens wird, ist der Arme bedeutungslos“, so Andrea Riccardi. Wenn also in großen Teilen der Welt heute der Markt mit seiner Orientierung am egoistischen Nutzen zur obersten Norm wird, bleibt eine unantastbare Würde des Menschen auf der Strecke. Eine solche Ethik vertritt die Weltanschauung des so genannten normativen Individualismus, die etwa vom US-amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträger James Buchanan profiliert wurde und inzwischen von Ökonomen als Mainstream vertreten wird. Nicht die Orientierung an einem absoluten Wert wie etwa einem Humanum, sondern wechselnde eigennützige Interessen entscheiden danach über die Auslegung von Menschenwürde und Solidarität.
(Konkret bedeutet das: Sozialtransfers an Bedürftige lassen sich allenfalls als so genannte „Duldungsprämien“ zur Minderung eines gesellschaftlichen „Drohpotentials“ konstruieren. Und das heißt konsequent: Die schwachen Menschen, die den sozialen Frieden nicht gefährden könnten, fallen durch das soziale Netz. )
Andrea Riccardi beschreibt die praktischen Folgen eines solchen herrschenden Zeitgeistes so: Alte Menschen werden aus Familien abgeschoben, Kranke und Gefangene geraten aus dem Blick, Bettler werden aus den Innenstädten vertrieben. Wer diese Logik weiterdenkt, ist schnell bei menschenverachtenden Schlüssen, „dass bestimmte schwerstbehinderte Kinder keine menschlichen Wesen sind, auch wenn sie von menschlichen Eltern abstammen“. Auch der australische Soziologe Peter Singer fragt in diesem Sinne weiter, warum kerngesunde Primaten weniger Rechte haben sollten als schwerstbehinderte Menschen. Und das bedeutet konsequent gedacht die Abschaffung einer absoluten Menschenwürde. Die Armen sind dann eine allenfalls zu duldende Last, die die Gesellschaft mehr kosten als dass sie ihr nützen. Ein solches Menschenbild spricht den Armen weder absolute Rechte noch ehrliche Achtung zu. Es wundert dann auch nicht, dass James Buchanan für den gesellschaftlichen Zusammenhalt vor affektiven Gefühlen warnt und stattdessen eine anonyme soziale Loyalität auf das am Nutzen orientierte Marktprinzip einfordert. Die nicht zufällige, sondern systematische Konsequenz liegt auf der Hand: Mit relativierter Menschenwürde bei einer anonymen sozialen Gesinnung sind im vermeintlich modernen ökonomischen Gesellschaftsmodell die Armen nicht willkommen. Und dieses Denken hat sich ausgebreitet. Andrea Riccardi beschreibt es so: „Die Solidarität im Bereich des Marktes wird durch die Wirtschaftskrise und den Wettbewerb schwächer.“ Dieser Entwicklung stellt die Katholische Soziallehre mit Nachdruck ihr profiliertes Verständnis von „Solidarität mit Tugend“ entgegen.
Das Prinzip: Christlich verstandene Solidarität begründet unbedingte Rechte
Im Sinne der Katholischen Soziallehre fordert Solidarität „die soziale Gerechtigkeit und die soziale Liebe“ (QA 88). Soziale Gerechtigkeit ist das der Menschenwürde entsprechende Verteilungsrecht. Dies ist eine juristische Dimension: Die Solidarität ist als Sozial- ein Rechtsprinzip. Es geht dabei um die Fragen von juristisch einklagbaren Rechten und Pflichten: Zu welcher Hilfe gegenüber dem Armen ist die Gesellschaft und jeder einzelne warum verpflichtet? Und: Auf welche Hilfe hat der Arme warum einen Anspruch? So funktioniert etwa die Solidarität in einem freiheitlichen Sozialstaat: Zwangsweise erhobene Steuern dienen zur Finanzierung von Sozialtransfers an Bedürftige. Sie müssen gut begründet werden, denn sie stellen ja einen Eingriff in Eigentumsrechte dar. Je nach Auslegung der Solidarität kommt dabei ein mehr liberales System der Eigenhaftung oder ein mehr kollektives System der Gemeinhaftung heraus mit entsprechenden Konsequenzen für juristisch einklagbare Verteilungsrechte und Pflichten. Es gibt also nicht die eine einzig gültige soziale Gerechtigkeit, sondern je nach Menschenbild miteinander konkurrierende Auffassungen von ihr.
Die Katholische Soziallehre vertritt auf der Grundlage der christlichen Idee vom Menschen eine eigene profilierte Sichtweise sozialer Gerechtigkeit, begründet in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und in seiner wesenhaften Hinordnung auf den Ruf Gottes. „Die Soziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist“ (DCE 28). Aus unserer christlichen Sicht ist die Menschenwürde von Gott vorgegeben und deshalb objektiv wie universal gültig. Daraus leiten sich vom Nutzen unabhängige Rechte und Pflichten jedes Menschen ab. Nicht die Wirtschaft ist der normative Maßstab des Urteilens, sondern die personale Idee vom Menschen. Der christlichen Idee der Personalität entsprechend muss es jedem, also erst recht den armen Menschen ermöglicht werden, ihrer gottgegebenen Bestimmung entsprechend leben zu können. Das heißt: Nur wenn ein Mensch seine individuelle Freiheit (Kreativität und Phantasie, Fleiß und Ehrgeiz) und seine Sozialnatur (Freundschaft, Partnerschaft, Familie), Eigen- und Sozialverantwortung seinen (potentiellen) Fähigkeiten entsprechend entfalten kann, lebt er als Person. Wird er dazu nicht befähigt, ist eine solche gesellschaftliche Güterverteilung sozial ungerecht: „Die Übung dieser Solidarität ist ein für die Gemeinschaft hochbedeutendes Gut; darauf, dass sie geübt wird, hat jedes Glied der Gemeinschaft allen anderen gegenüber streng rechtlichen Anspruch“. Soziale Transfers an Bedürftige, die sich nicht selbst helfen können, sind demnach anders als in der Weltanschauung des normativen Individualismus eine unbedingte juristische Pflicht. Personalität begründet stimmig eine unantastbare Würde und als soziale Befähigungsgerechtigkeit die unbedingt geschuldete Solidarität den Armen gegenüber.
Die Tugend zum Prinzip: Solidarität mit Liebe
Es geht aber für ein menschliches Gesicht der Solidarität um weit mehr als um bloß juristisch einklagbare Regeln, soviel sie auch wert sein mögen. Soziale Gerechtigkeit ist notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung christlicher Solidarität. Es muss eine entsprechenden Gesinnung hinzukommen: „Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht“ (Phil 2,5).
Mit welchem Habitus also begegnen wir den Armen? Der christlich begründeten Solidarität entspricht eine soziale Tugend der Nächstenliebe, die den ökonomischen Geist der Anonymität überwindet: Nächstenliebe ersetzt als Gesinnung ein „Geben um zu haben“ wie auch ein „Geben aus Pflicht“ (CiV 39). Sie ist selbst kein juristisches Sozialprinzip, sondern der Geist eines auch emotionalen Zusammenhalts, der Reiche und Arme eint. Schon im biblischen Schöpfungsbericht erkennen wir uns als Abbild Gottes, als von Gott zuerst geliebt und zur Liebe berufen. Die Menschen sollen sich als von Gottes Liebe gemeinsam Beschenkte und deshalb als zur Nächstenliebe Berufene verstehen und danach handeln. In seiner ersten Enzyklika beschreibt es Papst Benedikt XVI. so: „Ich sehe mit Christus und kann dem anderen mehr geben als die äußerlich notwendigen Dinge: den Blick der Liebe, den er braucht. Hier zeigt sich die notwendige Wechselwirkung zwischen Gottes- und Nächstenliebe“ (DCE 18). Für die Begegnung mit den Armen gilt: Jeder Mensch ist von Gott geliebt. Indem ich diese Liebe in meinem Gegenüber entdecke und sie ihm schenke, fühle ich mich deshalb ihm und Gott zugleich verbunden. Diese Nächstenliebe lässt unsere in Gott vollendete Zukunft eschatologisch in der Gegenwart wirksam werden.
Eine solche Beseelung, die nicht von dieser Welt, aber in diese Welt kommt, lässt uns solidarisch handelnd unserem Miteinander von Reichen und Armen ein liebend menschliches Gesicht geben, das diesen Namen verdient. Dabei denke ich ganz konkret an eine kirchlich motivierte Krankenschwester aus dem Bistum Aachen. Sie wünscht sich für ihre Begegnung mit den Bedürftigen „noch Lebensräume der Menschlichkeit …, damit solidarisches Handeln gelingen kann, das von Herzen kommt: nicht als bloße Routine oder Pflicht, sondern mit ehrlicher Achtung und dem verbindenden Bewusstsein, gemeinsam Mensch zu sein.“
Anonyme Pflichterfüllung von oben herab wirkt dagegen kalt und entwürdigend. Darauf hat Papst Benedikt XVI. am 27. Dezember 2009 bei seinem Besuch der Mensa von S. Egidio in Rom hingewiesen. Für den Papst ist es nicht das „Wunder“, dass er hier zu den Armen kommt. Dies müsste wie ein bloßer Gnadenakt erscheinen. Das Wunder sind ihm vielmehr die unterschiedlichen Geschichten der Menschen, die sich hier begegnen. Der Papst kam als von Gott geliebter Mensch unter von Gott geliebte Menschen. Diese Atmosphäre der Nähe und Wärme beseelt die Solidarität auch geistlich. Damit lebt der Papst das Programm christlicher Solidarität mit und vor: Mit Nächstenliebe ist sie der absoluten Idee einer Personalisierung aller Menschen verpflichtet und überwindet soziale Anonymität durch ein auch emotionales Miteinander, das „nun wirklich Entdeckung des anderen ist und so den egoistischen Zug überwindet“ (DCE 6). Solidarität mit ehrlicher Nächstenliebe den Armen gegenüber zu leben, ist ein heute fast verstummter Anspruch, mit dem die Kirche den ökonomischen Zeitgeist provoziert und ihr eigenes Profil gewinnend dagegen setzt.
Ein Ausblick: Vision der Liebe für die Welt
Die Armen heute als Schatz zu entdecken, mit diesem Opus Proprium fordert die Kirche die Marktreligion mit ihrer menschenverachtenden Ausladung der Armen entschieden heraus. Gelebte Glaubwürdigkeit überzeugt. Und deshalb heißt die große Mission für die Armen für uns, Solidarität im Geist der Nächstenliebe neu zu denken und durch unser Sprechen und Tun zu bekennen. Das gilt für jede konkrete Begegnung von Gesicht zu Gesicht ebenso wie für das Eintreten der Kirche für eine daran orientierte Weltordnung. Kirche gewinnt, wenn sie die Stimme erhebt, wo andere schweigen: Wo die Armen nur geduldet sind, um wirtschaftliche Interessen auf deren Kosten zu befriedigen, muss sie diese Menschenverachtung anprangern. Wo Solidarität mit den Armen als bloße Pflicht geübt wird, muss sie diese Kühle entlarven. Wo Solidarität zum Kampfbegriff missbraucht wird, die Armen gegen die Reichen zur Gewalt zu mobilisieren, muss sie das universale Kerygma der Liebe bekennen, das Brücken baut statt Mauern. Die Mission für die Armen folgt der Vision von der „Einheit des Menschengeschlechts, eine brüderliche Gemeinschaft jenseits jedweder Teilung“ (CiV 34) zu realisieren: „Wenn das Handeln der Menschen auf Erden von der Liebe inspiriert und unterstützt wird, trägt es zum Aufbau einer universalen Stadt Gottes bei, auf die sich die Geschichte der Menschheitsfamilie zubewegt“ (CiV 7).
Literatur
- Benedikt XVI. (2006) Enzyklika ‚Deus Caritas est’. Vatikanstadt (DCE).
- Benedikt XVI. (2009) Enzyklika ‚Caritas in Veritate’. Vatikanstadt (CiV).
- Buchanan, James (1999) Moral und Gemeinschaft in der offenen Ordnung des Marktes. In: Viktor Vanberg (Hrsg.) Freiheit, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung. Hommage zum 100. Geburtstag von Friedrich A. von Hayek. Freiburg/ Berlin/ München: Haufe. S. 13–36.
- Fretz, Kristina (2010) Christliche Ethik solidarischen Handelns. Anmerkungen aus der Praxis. In: Hermann Brandenburg/ Helen Kohlen (Hrsg.) Gerechtigkeit und Solidarität im Gesundheitswesen (in Druck).
- Homann, Karl/ Ingo Pies (1996) Sozialpolitik für den Markt: Theoretische Perspektiven konstitutioneller Ökonomik. In: Ingo Pies/ Martin Leschke (Hrsg.) James Buchanans konstitutionelle Ökonomik, Tübingen: Mohr. S. 203–239.
- Nell-Breuning, Oswald von (1985) Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, 2. Aufl., Wien: Olzog.
- Nussbaum, Martha (1993/1999) Menschliche Fähigkeiten, weibliche Fähigkeiten. In: dies. Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Aus dem Amerikanischen von Ilse Utz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 176–226.
- Pius XI. (1931/1992) Enzyklika ‚Quadragesimo Anno‘. In: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands – KAB (Hrsg.). Texte zur katholischen Soziallehre, Bornheim et al. S. 91–150 (QA).
- Riccardi, Andrea (2009) Die Nächstenliebe: eine Vision für das Christentum im 21. Jahrhundert, Vortrag zur Tagung: Arme sind der kostbare Schatz der Kirche. Orthodoxe und Katholiken auf dem Weg der Nächstenliebe, Rom am 4. Mai 2009
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