Sintezza, Überlebende des Nationalsozialismus
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Mein Name ist Rita Prigmore, ich bin eine Zigeunerin aus Würzburg in Deutschland und eine Überlebende des Holocaust. Ich fühle mich sehr geehrt und froh, bei diesem wichtigen Treffen der Gemeinschaft Sant’Egidio zum Thema: „Mut zur Hoffnung“ sprechen zu können. Der Titel dieses Forums: „Sich vom Leid in Frage stellen zu lassen“ ist ein sehr wichtiges Thema, in einer Zeit, in der die Menschen oft das Leid nicht sehen wollen, oder sich nicht an das Leid der früheren Generationen erinnern wollen. Oft wird mir gesagt: „Wir können diese alten Geschichten aus der Nazizeit nicht mehr hören, einmal muss man aufhören damit.“ Das tut mir sehr weh, weil ich davon überzeugt bin, dass es wirklich wichtig ist, von der Geschichte meines Volkes der Sinti und Roma zu sprechen, einem Volk, das im Nationalsozialismus so unendlich gelitten hat und bis heute unter Diskriminierung, Rassismus und Ausgrenzung leidet. Deshalb bin ich froh, dass die Gemeinschaft Sant’Egidio mich vor mehr al einem Jahr gebeten hatte, vor hunderten von Jugendlichen aus ganz Europa zu sprechen, um ihnen meine Geschichte zu erzählen. Wir waren auch gemeinsam dreimal in Auschwitz. Den Jugendlichen sage ich immer: „Ihr seid für das, was im Nationalsozialismus geschah, nicht verantwortlich, aber ihr seid verantwortlich, dass es nicht wieder geschieht.“ Und ich erzähle ihnen ganz einfach meine Geschichte, wie ich es jetzt auch tun möchte.
Unsere Familie war sehr groß. Wir Sinti leben seit 600 Jahren in Deutschland und waren vor der Nazizeit sehr gut als Deutsche integriert. Meine Mutter trat am Stadttheater auf, mein Großvater war Korbmacher, hatte Ländereien und war in der Korbmacherinnung. Ab 1938 registrierte man meine Familie als Zigeuner, deshalb wurde sie von einer Kleinstadt in Bayern nach Würzburg überstellt und mit 5 Personen in eine 1 ½ Zimmer Wohnung gebracht. Sie durften ab diesem Zeitpunkt die Stadt nicht mehr verlassen. 1940 wurden sie durch das Erbgesundheitsgesetz als Zigeuner oder als Mischlinge eingestuft.1941 mussten sich alle Sintis entscheiden: Entweder Sterilisation oder Auschwitz.
Um nicht nach Auschwitz zu kommen, unterschrieb meine Mutter für sich und die Familie, sich sterilisieren zu lassen. Als sie in der Uniklinik sterilisiert werden sollte, stellte man fest, dass sie mit Zwillingen schwanger war, mit mir und meiner Schwester Rolanda. Da sie zuwidergehandelt hatte, musste sie unterschreiben, dass sie uns für Versuchszwecke Dr. Heyde überlässt. Dr. Heyde war ein Schüler des berüchtigten Dr. Mengele in Auschwitz, dessen Absicht es war, eine arische Menschenrasse zu züchten, und die Augenfarbe von braun nach blau zu färben. An diesen Experimenten leide ich bis heute.
Meine Schwester Rolanda und ich wurden am 3. März 1943 geboren. Meine Mutter erzählte mir, dass vier Ärzte mit Uniformen anwesend waren, sie nahmen ihr die Kinder gleich weg, um sie zu vermessen und zu registrieren. Sie musste uns in der Klinik lassen. Nach einiger Zeit hielt sie es nicht länger aus und ging zur Klinik, um uns zu sehen. Eine Schwester zeigte ihr nur die eine Tochter: Rita, mich. Meine Mutter rief: „Wo ist mein zweites Kind“ und die Schwester führte sie ins Bad. Da lag Rolanda, mit einem Verband um den Kopf in der Badewanne, sie war tot.“ Meine Mutter bekam Angst und holte mich aus dem Bettchen. Sie rannte mit mir aus der Klinik und flüchtete sich in die St. Rita Kapelle. Dort ließ sie mich Nottaufen auf den Namen Rita. Ich hatte ein großes Pflaster am Kopf. Sie ging mit mir nach Hause, dort wartete schon die Gestapo. Ein Jahr wusste meine Mutter nicht, wo ich war, dann kam ein Brief vom Roten Kreuz, dass mich meine Mutter abholen könnte. Das war im Jahr 1944.
Ich habe mich immer gefragt: warum ändert sich im Gespräch mit jemanden alles, wenn ich sage, dass ich Zigeunerin bin? Warum verliert man seine besten Freunde? Diese Erfahrung musste ich schon als 10 jähriges Kind machen. Wir lebten in Würzburg nach dem Krieg in Baracken mit vielen anderen Familien. Wir verstanden uns gut. Unsere Nachbarin backte jeden Sonntag einen Kuchen für uns. Erika war so alt wie ich, wir gingen zusammen in die Schule, sie war meine beste Freundin. Dann kamen Zigeuner aus Frankreich zu uns zu Besuch, am Abend saßen wir am Lagerfeuer, andere Sintis kamen dazu, dann auch deutsche. Papo hatte Kaffee am Feuer gemacht. Dann haben wir erzählt von früher, vor dem Krieg in unserer Sprache Romanes. Am nächsten Tag merkte ich, dass meine beste Freundin nicht mehr mit mir sprach. Ich fragte sie, warum und sie sagte: Euer Besuch waren Zigeuner, wir haben eure Sprache gehört und meine Eltern haben mir gesagt: Sie sind Zigeuner, und ich darf mit dir nicht mehr verkehren.
Liebe Freunde, das Leid, das mir angetan wurde, hat mich auch stark gemacht. Es hat mich verstehen lassen, dass nicht der Hass das Leid überwindet, sondern die Vergebung. Die Vergebung ist eine große Kraft, denn nur so kann ich meine Mission erfüllen, die ich tun muss: Nämlich den Jugendlichen von meiner Geschichte erzählen, um ihnen die Augen zu öffnen, damit sie gegen jede Form des Rassismus arbeiten und nicht zuzulassen, dass so etwas wieder passiert. Ich möchte ihnen sagen, dass man mit Hass nichts aufbaut und nichts bewirkt, nur wieder Hass und Zerstörung, Trennungen, Spaltungen und das führt zu neuem Leid. Ich glaube, dass das Vergeben die Zukunft aufbaut und der Hass muss der Vergangenheit angehören. Die Zukunft kann nur mit Verständnis füreinander aufgebaut werden. Und Verständnis füreinander ist etwas, das man aktiv tun muss: Man muss sich für den anderen interessieren, mit ihm sprechen, ihm begegnen und dann versuchen, ihn zu verstehen.
Den Jugendlichen von heute wird eingeredet, dass man ein glückliches Leben führt, wenn man vor dem Leid flieht, gewissermaßen davonläuft. Doch das ist ganz falsch und ich habe in den vielen Gesprächen mit den Jugendlichen verstanden, dass sie das nicht wollen. Sie wollen verstehen, sie hören mir zu mit großem Interesse und großer Aufmerksamkeit. Die häufigste Frage der Jugendlichen ist: „Woher bekommen Sie ihre Stärke und Kraft, um immer wieder ihre Geschichte zu erzählen?“ „Woher bekommen Sie die Stärke vor Jugendlichen und Schülern in Deutschland zu sprechen, wo doch ihre Familie und sie selbst so sehr in Deutschland gelitten haben und so viele ihrer Verwandten in Auschwitz ermordet wurden?“
Die Antwort ist: Ich habe verziehen, sonst wäre ich nicht bei der Gemeinschaft Sant’Egidio und hätte mich nicht bereit erklärt, in den Schulen und vor vielen Jugendlichen zu sprechen. Mein Besuch in Auschwitz, der jedes Mal für mich sehr, sehr schwer ist, weil hunderte meiner Leute dort ermordet worden sind und ich die vielen Namen meiner Familie auf den Tafelns dort gelesen habe und Bilder von ihnen gesehen habe, hat mich noch stärker gemacht und mich motiviert, öffentlich zu sprechen. Ich habe vergeben, denn indem ich ihnen vergeben habe, kann auch Gott mir vergeben. Aber vergessen werde ich es nie.
Es erschüttert mich in der Tiefe meines Herzens, wenn ich in vielen europäischen Ländern rechtsradikale Gruppen wachsen sehe, wenn viele Zigeuner mit den gleichen Worten wie damals beschimpft werden, oder ihnen gesagt wird: „Euch hat man im dritten Reich vergessen zu vergasen.“ Wenn Zigeunerkinder in der Schule beschuldigt werden zu stehlen oder als dumm angesehen werden und in den Sonderschulen landen, wenn mein Volk einfach keinen Platz und keine Ruhe findet auf dieser Erde. Es ist schwer für uns Zigeuner, die keine Lobby haben.
Doch es gibt noch eine andere große Kraftquelle in meinem Leben: Das ist das Gebet. Gott hat mich nie verlassen, das weiß ich und das ist mein Halt.
Ich bin nicht pessimistisch, weil ich weiß, dass Menschen sich ändern können, durch die Begegnung und das Gespräch miteinander. Deshalb muss man mit allen sprechen, auch mit den Feinden. Deshalb bin ich so froh über diese große Konferenz hier in Rom, von der die Hoffnung ausgeht, dass die Welt menschlicher wird.
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