MÜNCHEN, 5. November 2012 (Vaticanista).- Zum Millenniums-Papst Johannes Paul II./Karol Wojtyla (1920-2005) gibt es viele, teils noch zu Lebzeiten geschriebene Biographien und Bildbände unterschiedlichster Qualität. Am ausführlichsten und intensivsten widmete sich (in einer manchmal einseitig amerikanischen Perspektive) seinem in die Kirchen- und Weltgeschichte eingeschriebenen Leben und Wirken das zweibändige umfangreiche Werk von George Weigel („Zeuge der Hoffnung“, Paderborn 2002; „Der Papst der Freiheit“, Paderborn 2011). Nun legt der Echter Verlag (Würzburg) unter dem selbstbewusstem Titel „Johannes Paul II. Die Biografie“ eine über 700 Seiten umfassende Darstellung aus der Feder des italienischen Zeitgeschichtlers, Gründers der Gemeinschaft Sant’Egidio, Karlspreisträgers (2009) und seit kurzem Ministers im Kabinett Monti Andrea Riccardi (Jg. 1950) vor.
Dieser stand in engem Kontakt mit Johannes Paul II. und hatte dabei zunächst keine biografischen Absichten, sondern war ihm mit seiner Gemeinschaft Sant’Egidio vor allem gedanklich und persönlich verbunden in der Fortführung der Impulse aus dem Friedensgebet der Religionen in Assisi von 1986. Für seine Biografie greift Riccardi neben der zeitgeschichtlichen Analyse auf eigene Begegnungen mit Johannes Paul II. zurück, auf Erinnerungen seines Sekretärs Kardinal Stanislaw Dziwisz (Krakau) und ein Gespräch mit dem langjährigen Gefährten und dann Nachfolger im Petrusamt, Papst Benedikt XVI. Dieser meinte: „Johannes Paul II. stammte aus einem leidgeprüften Volk, dem polnischen, das in seiner Geschichte harten Proben ausgesetzt war. Und gerade von diesem leidenden Volk ging, nach all den Verfolgungen, die Kraft der Hoffnung aus. Ich habe ihn leidend gesehen, aber nie traurig. Vom Beginn seines Pontifikates sprach er von einem neuen Advent. Er hoffte, dass sich im Lauf der Geschichte für das Christentum eine Zeit der Freude behaupten werde“ (11).
Diesem Eindruck seines Nachfolgers geht Riccardi in seiner Biografie nach und untermauert ihn durch spannend und verständlich geschriebene Schilderungen. Dabei ist ihm die „Komplexität“ der Person und des Umfeldes Karol Wojtylas von Beginn an bewusst. Die Herangehensweise ist offen für das „Geheimnis Wojtyla“ (17) und beschreibt mit interessanten Einzelheiten zunächst den kirchenhistorischen Schritt im Konklave 1978 zu einem nichtitalienischen Papst.
Ausführlich werden dann die biografischen, familiären, kirchlichen und spirituellen Wurzeln Karol Wojtylas im Polen der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit behandelt. Dazu gehörten die Bewegung des „lebendigen Rosenkranzes“, der Mystiker Jan Tyranowski und die Marienverehrung des Franzosen Grignion von Montfort. Der „New York Times“-Journalist Tad Szulc, selbst polnisch-jüdischer Herkunft, wird zitiert mit dem Satz: „Sein Polentum ist ein wesentliches Element seiner Persönlichkeit, in der sich Konservatismus und Modernität auf eine manchmal seltsam anmutende Weise mischen“ (49). Karol Wojtylas Jugend war überschattet vom allzu frühen Tod seiner Mutter, seines ihn sehr prägenden Vaters, eines ehemaligen k.u.k.-Offiziers, und seines Bruders. Seine Priesterberufung, die zunächst noch nicht eindeutig angestrebt wurde, erfuhr besondere Förderung durch den damaligen Krakauer Fürstbischof Adam Sapieha, der ihn auch zum Studium nach Rom entsandte.
Schon in der Schulzeit in seinem Geburtsort Wadowice war Wojtyla mit jüdischen Kommilitonen eng befreundet, war wie sein Vater frei von jedem auch im katholischen Polen grassierenden Antisemitismus. Mit dem „romantischen“ Dichter Adam Mickiewicz sah er in Israel den „älteren Bruder“ der polnischen Nation. Später erlebte er hautnah die Shoa. Bis an sein Lebensende verband ihn die Freundschaft mit seinem jüdischen Schulfreund Jerzy Kluger, dem er 2000 auch in Yad Vaschem begegnete. Riccardi schildert viele Einzelheiten und Hintergründe der Beziehung Johannes Pauls II. zum Judentum, so den Besuch in der römischen Synagoge 1986, die Anerkennung des Staates Israel 1993, den Besuch in Jerusalem im Heiligen Jahr 2000 mit der Vergebungsbitte für christlichen Antisemitismus an der Klagemauer. In seinem Testament erwähnt er außer seinem Sekretär namentlich nur den Rabbiner seiner Bischofsstadt Rom Elio Toaff (700).
Kein Papst hat wie Wojtyla den Willen des Zweiten Vatikanischen Konzils nach einer Versöhnung von Christen und Juden so umgesetzt und unwiderruflich gemacht. Er intervenierte entscheidend beim Streit um das Karmel-Kloster in Auschwitz in den 1990er Jahren. Das alles hinderte ihn nicht, sich auch arabischen und islamischen Völkern zu öffnen und erstmals in Damaskus, kurz vor dem 11. September 2001, eine Moschee zu besuchen. Riccardi betont daher mehrmals, auch im europäischen und globalen Kontext, die bewusste „Theologie der Nationen“ Wojtylas, die ihn etwa auch einen Krieg zwischen Chile und Argentinien verhindern ließ, die ihn ohne Vereinnahmung mit einem Pinochet und Fidel Castro zusammenführte, im Blick auf das längerfristige Wohl der jeweiligen Völker. Allein Russland und China blieben aus unterschiedlichen Gründen ein weißer Fleck auf der Landkarte seiner zahlreichen Pastoralreisen, bei denen er sich nicht nur als Petrus-, sondern auch als evangelisierender Paulus-Nachfolger sah (654).
Riccardi beschreibt Karol Wojtyla lebhaft als „polnischen Priester und Bischof“ (97-212) in der Zeit der kommunistischen Diktatur und als jemand, der dann dem Papsttum ein ganz neues Gesicht gab. Die zahlreichen Krisen seines langen Pontifikates sind wie ein Blick in die Zerrissenheit der Geschichte von Kirche und Welt: das Attentat vom 13. Mai 1981, das Kriegsrecht in Polen, der Falklandkrieg, der Streit um die lateinamerikanische Befreiungstheologie und die Ausbreitung der evangelikalen Sekten, der Kommunismus und seine Überwindung, das schreckliche Massaker in Ruanda, der grausame Jugoslawienkrieg, die sinnlosen Irak-Kriege und der fürchterliche Terroranschlag in New York. Der Wille zu Versöhnung und Friede, mit dem besonderen Zeichen des Gebetes der Religionen in Assisi, trieb Johannes Paul II. an und war seine adventliche Hoffnung auch für das Jubeljahr 2000 der Geburt Christi, „in dem sich alle Anliegen des Pontifikates bündelten“ (660). Einen „Kampf der Kulturen“ wollte er um jeden Preis vermeiden. Innerkirchlich und ökumenisch blieb trotz (oder wegen) „charismatischer Herrschaft“ (615-674) manches unerledigt, gab es Enttäuschungen, Versäumnisse und Verletzungen, aber das große Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils hat der daran aktiv beteiligte polnische Papst bewahrt und vermehrt.
Riccardi beschreibt ausführlich die verschiedenen Auseinandersetzungen (etwa mit Hans Küng und Erzbischof Lefebvre) um den Kurs der Kirche, hält aber fest: „Karol Wojtyla war kein konservativer Papst, und noch weniger ein Traditionalist“ (225), sein Programm auch für das 21. Jahrhundert war allein das Evangelium. Trotz seiner „Intransigenz“ (343) in vielen Fragen, stiegen seine Sympathiewerte weltweit. Vor allem war er ein Anwalt der Menschenrechte und des Menschen, seines Lebens und seiner Würde, wie im Schlusskapitel „Der Kampf für das Leben“ (675-706) auch im Blick auf die Armen und seinen die Welt beeindruckenden Tod (am Vorabend des von ihm eingeführten Festes der Barmherzigkeit) betont wird.
So kommt Andrea Riccardi nach all den historischen Schilderungen, die durch die Anteilnahme wie ein Blick ins zerrissene und durchbohrte Herz der Welt sein können, zum Fazit seiner Biografie: „Das war Johannes Paul II. wirklich: ein Mann, der sich nicht von der Geschichte beugen ließ, der die Hoffnung nie aufgegeben hat, sie zu verändern und zu überwinden“ (705). Seine Präsenz war global und sein Primat nicht nur kirchlich, sondern erstmals auch ein „realer Primat innerhalb aller Führer der Weltreligionen“ (584), der in Israel sogar eine Art „Sehnsucht nach einem Hohepriester“ (605) wahrnahm. Trotz des Umfangs ist Riccardis repräsentative und informative Wojtyla-Biografie leserfreundlich in Form, Aufbau und Schriftbild. Dazu trägt auch die Entscheidung bei, dem Band keine zu sehr auf das Äußere schauenden Bilder beizugeben.
Die deutsche Ausgabe stellt Minister Riccardi am Dienstag um 12 Uhr im Festsaal des Münchener Künstlerhauses, Lenbachplatz 8, vor. Es sprechen: Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, Andrea Riccardi, Minister für Internationale Zusammenarbeit und Integration, Italien und Metropolit Serafim Joanta, Rumänische Orthodoxe Metropolie für Deutschland, Zentral- und Nordeuropa. Die Moderation hat Daniel Deckers von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
[Andrea Riccardi, Johannes Paul II. Die Biografie, Würzburg (Echter Verlag) 2012, 720 Seiten, EUR 49,90; ISBN 978-3-429-03412-2; Erstveröffentlichung des Artikels: "Freiburger Rundbrief", 2/2013]