Kaum eine kirchliche Gliederung ist so sehr mit Ehrungen und Preisen ausgezeichnet worden wie die vor genau fünfzig Jahren von dem damals achtzehnjährigen Gymnasiasten und späteren Historiker Andrea Riccardi gegründete Gemeinschaft Sant'Egidio. Als der gebürtige Römer und Minister im Kabinett von Mario Monti 2009 den renommierten Karlspreis erhielt, war das eine persönliche Ehrung, aber sie galt auch der gesamten Gemeinschaft und ihrer Friedensarbeit, die in der Vermittlung eines Abkommens nach dem Bürgerkrieg in Mosambik ihren sichtbarsten Ausdruck fand. Nach zähen Verhandlungen, in denen es Riccardi gelang, zwischen den Konfliktparteien ein Klima des Vertrauens zu schaffen, kam es 1992 zum Friedensschluss in Rom.
Doch schon 1982 hatte Riccardi im libanesischen Bürgerkrieg vermittelt, später, nach dem Mosambik-Erfolg, gelang Sant'Egidio ein weiterer spektakulärer Friedensschluss, der den Bürgerkrieg in Guatemala beendete. Auch nach dem Balkankrieg war der „stille Versöhner“ Riccardi aktiv, doch nicht nur als Diplomat. Nach dem Kosovo-Konflikt hielten Mitglieder von Sant'Egidio „Friedensschulen“ für Kinder mittelloser Familien in Tirana und Lezha ab. Das war so, wie die Arbeit von Sant'Egidio begonnen hatte: In den Vorstädten Roms hatte die jungen Gefährten von Riccardi „Volksschulen“ für Kinder eingerichtet, die keine ordentliche Schulausbildung absolvieren konnten. Und schon damals, ganz am Anfang, organisierte die Gemeinschaft Armenspeisungen, die bis heute ihren Höhepunkt in dem Weihnachtsessen in der Basilika Santa Maria in Trastevere findet. Diese Kirche in dem alten Stadtteil westlich des Tibers wurde zum geistigen Zentrum der Gemeinschaft. In dem nahegelegenen ehemaligen Karmeliterinnenkloster des heiligen Ägidius (Sant'Egidio) traf man sich abendlich, um gemeinsam das Evangelium zu lesen. Es gab der Bewegung um Riccardi ihren Namen und ist heute der Hauptsitz der Gemeinschaft. Grundlage des gemeinschaftlichen Lebens ist das gemeinsame Abendgebet, das offen ist und in zentralen Kirchen stattfindet. Dabei wird jeweils eine Bibelstelle ausgelegt. Am Sonntag treffen sich die Gemeinschaften zur Eucharistiefeier.
In Italien, wo man – formal – immer sehr deutlich zwischen der „laikalen“ und der „katholischen“ Sphäre des öffentlichen Lebens unterscheidet, ist Sant'Egidio die einzige katholische Institution, die die völlig uneingeschränkte Anerkennung und Unterstützung seitens der laikalen Welt genießt, was schon daran sichtbar wird, dass Riccardi in der Krisenregierung Mario Montis von 2011 bis 2013 durchaus als Gründer der Gemeinschaft ein Ministeramt innehatte. Sant'Egidio ist „vorzeigbar“. Bundeskanzlerin Merkel besuchte die Gemeinschaft, Trump-Tochter Ivanka war dort und als die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright politische Gespräche in Rom führte, hielten die Medien aufmerksam fest, dass sie länger mit Riccardi sprach als mit dem italienischen Außenminister. Innerkirchlich und in der zivilen Öffentlichkeit liegt Sant'Egidio immer im Trend. Nach dem ersten historischen Friedenstreffen der Religionen 1986 in Assisi vertraute Papst Johannes Paul II. die Fortsetzung dieser interreligiösen Begegnungen Sant'Egidio an. Die Flüchtlingsarbeit ist zu einem weiteren Schwerpunkt der Arbeit der Gemeinschaft geworden, die damit kongenial die unermüdlichen Appelle von Papst Franziskus unterstützt. Seit 2016 organisiert Sant'Egidio zusammen mit der Vereinigung der evangelischen Kirchen Italiens und den Waldenser sogenannte Flüchtlingskorridore, über die in Abstimmung mit den staatlichen Stellen schon über tausend Migranten nach Italien gekommen sind. Den ehemaligen Kirchlichen Assistenten Vincenzo Paglia, der zur Gründergeneration von Sant'Egidio gehört, machte Johannes Paul II. zum Bischof von Terni, Benedikt XVI. holte ihn als Präsident des Familienrats in den Vatikan und Franziskus ernannte ihn 2016 zum Großkanzler des Familien-Instituts in Rom und zum Präsidenten der Päpstlichen Akademie für das Leben. In beiden Positionen sorgt Paglia dafür, dass der Vatikan nicht mehr aneckt, wie zuletzt geschehen bei der von Seiten der Kirche ohne größere Protest hingenommenen Verabschiedung des Gesetzes über die Patientenverfügungen, obwohl katholische Ärzte-Vereinigungen Italiens dieses Gesetz gar nicht mittragen wollten.
Wie viele der jüngeren geistlichen Bewegungen kennt auch Sant'Egidio keine formelle Mitgliedschaft. Die Zahl derer, die der Gemeinschaft in heute etwa vierzig Ländern auf vier Kontinenten folgen, dürfte bei fünfzigtausend liegen. Der Kreis derjenigen, die sich jedoch zu einem intensiven Leben innerhalb von Sant'Egidio entschließen, umfasst etwa fünfzehnhundert Frauen und Männer. Längere Zeit schon ist der italienische Historiker Marco Impagliazzo der Präsident von Sant'Egidio, die bekannteste Figur der Gemeinschaft ist aber nach wie vor ihr Gründer Andrea Riccardi.