| 13 Septiembre 2012 |
Signal für eine bessere Zukunft? |
Das Friedenstreffen der Gemeinschaft von Sant'Egidio in Sarajevo |
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Der serbisch-orthodoxe Patriarch Irinej von Belgrad brach gleich zwei Tabus. Niemals zuvor hatte er oder sein Vorgänger Pavle einen Fuß auf den Boden von Bosnien-Hercegovina gesetzt, jenem Staatswesen, das nur dank des Friedensabkommens von Dayton und der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft seit fast zwanzig Jahren eine fragile Selbständigkeit behauptet. Jetzt aber folgte er einer Einladung, die er allen politisch und religiös motivierten Widerständen in Belgrad zum Trotz nicht ausschlagen wollte: Zwanzig Jahre nach dem Beginn des Bosnien-Krieges richtete die katholische Gemeinschaft Sant'Egidio in Sarajevo ihr alljährliches Friedenstreffen aus.
Und nicht nur Irinej wollte nicht fehlen, als es galt, Chancen der Versöhnung und einer gemeinsamen Zukunft der verschiedenen Volksgruppen in Bosnien-Hercegovina auszuloten. Die Anziehungskraft der Gemeinschaft ist so groß, dass sich auch Herman van Rompuy, der Präsident des Europäischen Rates, der italienische Ministerpräsident Monti sowie zahlreiche Staats- und Regierungschefs sowie Kirchen- und Religionsführer aus .aller Welt einfanden. So farbenfroh ging es in Sarajevo wohl seit den Olympischen Winterspielen 1984 nicht mehr zu.
Doch ehe van Rompuy, Monti, Andrea Riccardi, der Gründer der Gemeinschaft, und viele andere während der Eröffnungsfeier die Zugehörigkeit des Balkans zu Europa und die Versöhnungsbereitschaft der einander misstrauisch bis feindselig gegenüberstehenden Volksgruppen beschworen, hatte Irinej das zweite Tabu gebrochen. Der Patriarch besuchte den Vorabendgottesdienst in der katholischen Kathedrale und sprach dort ein Grußwort. Erzbischof Vinko Pulji? , den Papst Johannes Paul II. 1994 während der mehr als 1400 Tage währenden Belagerung Sarajevos durch die Serben als Zeichen seiner Solidarität zum Kardinal ernannt hatte, machte am Sonntag früh in der serbisch-orthodoxen Kathedrale einen Gegenbesuch. Den Gläubigen, so wussten Teilnehmer zu berichten, standen ob dieser Gesten Tränen in den Augen.
Donnernder Applaus hingegen war das Echo auf die Versöhnungsgeste, die Mustafa ?eri?, der scheidende Großmufti Bosniens und Hercegovinas, und Oded Wiener, der Vertreter des Oberrabinats in Jerusalem, einander entboten. Gemeinsam hielten sie eine Ausgabe einer der größten Schätze der jüdischen Buchkunst in den Händen, der Haggadah von Sarajevo. Sefardische Juden hatten die Handschrift einst bei ihrer Vertreibung aus Spanien mitgenommen, ein katholischer Priester aber soll sie im 17. Jahrhundert in Venedig vor der Verbrennung gerettet haben. Während des Zweiten Weltkriegs war es dagegen ein Muslim aus Sarajevo, der die jüdische Handschrift vor den deutschen Besatzern und ihren kroatischen Helfern verbarg. Auch den Bosnien-Krieg überstand die Haggadah im Schutz der muslimischen Gemeinschaft der Stadt. Konnte es ein besseres Sinnbild für die Sehnsucht nach der multireligiösen und multiethnischen Vergangenheit Sarajevos und mit ihm des ganzen Balkans geben als diese Handschrift?
In Sarajevo zeigte sich so krass wie selten, dass die öffentliche Repräsentation von Religion noch immer Männersache ist. Unter den zahlreichen Vertretern der orthodoxen Kirchen des Ostens suchte man Frauen ebenso vergebens wie unter den zahlreichen Repräsentanten des Judentums, gar nicht zu reden von den Muslimen. Selbst die Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind, ließen sich ausnahmslos von Männern vertreten. Dabei ist die Gemeinschaft, die 1968 in Rom gegründet wurde, alles andere als eine Männerdomäne. Doch wenn es ernst wird und die Gemeinschaft wie vor zwei Jahren in Guinea, im vergangenen Jahr in der Elfenbeinküste oder jüngst im Senegal gebeten wird, zwischen Gruppen und Parteien zu vermitteln, schlägt auch heute nur die Stunde der Männer.
So war es schon vor 20 Jahren, als der heutige Weihbischof von Rom Matteo Zuppi den Friedensschluss zwischen Regierung und Guerrilla in Moçambique vermittelte, so war es, als Vincenco Paglia, der jetzige Präsident des Päpstlichen Rates für die Familie, Ibrahim Rugova, den Führer der Kosovo-Albaner, vor den Serben in Sicherheit brachte, so wird es auch Ende September sein, wenn sich in Rom zum zweiten Mal Syrer treffen werden, die sich noch nicht der Logik von Gewalt und Gegengewalt ergeben haben. Andrea Riccardi, im Kabinett Monti Minister für Integration und internationale Beziehungen, ist mittlerweile eine Autorität. Andere Mitglieder der Gemeinschaft, die im Dienst von Frieden und Versöhnung unterwegs sind, sieht man nicht. Auch bei Sant'Egidio ist Diskretion die höchste Tugend der Diplomatie.
Diplomatisch-diskret ging es denn auch hinter den Kulissen zu. Mehrfach kam es zu Begegnungen zwischen dem Patriarchen und den Mitgliedern seiner Synode auf der einen sowie Repräsentanten der bosnischen Muslime auf der anderen Seite. Auf offener Bühne dagegen zeigten sich die Fronten zwischen Muslimen und Serben so verhärtet wie eh und je. Der serbisch-orthodoxe Bischof Grigorije von Mostar bezichtigte Großmufti ?eri?, Bosnien-Hercegovina in einen islamischen Staat verwandeln zu wollen. ?eri? wiederum bat vergebens um ein Wort des Bedauerns der Serben für den Tod Zehntausender und das hunderttausendfache Leid, das sie nach dem Zerfall Jugoslawiens über die anderen Völker des westlichen Balkans gebracht hatten. "Wir können Ungerechtigkeit vertragen, denn absolute Gerechtigkeit kann es nicht geben", sagte ?eri?, "aber was wir nicht vertragen können, ist Unwahrhaftigkeit." Bischof Grigorije verzog keine Miene.
Noch sind die Wunden frisch, die der Krieg geschlagen hat, noch ist die Erinnerung nicht verblasst an die mehr als 11 000 Einwohner von Sarajevo, die während der Belagerung von Granaten zerfetzt oder von Heckenschützen ermordet wurden. Haben damals nicht alle Bewohner von Sarajevo gemeinsam gelitten, gleich ob Muslim, Katholik, Jude oder Orthodoxer? Liegt nicht die Zukunft in einem "einen und doch vielfältigen" Sarajevo, wie Riccardi mit Blick auf die in der Altstadt nur wenige hundert Meter auseinanderliegenden Kathedralen, Moscheen und Synagogen sagte? Doch weder Kardinal Pulji? noch Jakob Ficek, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinschaft von Bosnien-Hercegovina, noch der Hohe Repräsentant der EU in Bosnien-Hercegovina, der österreichische Diplomat Valentin Inzko, wollten die tiefen Gräben zwischen den bosnischen Politikern und die bis in die Begrifflichkeit hinein unterschiedlichen Deutungen der jüngsten Geschichte durch Floskeln überspielen.
Nicht gespielt war aber indes die Hochachtung, die der Gemeinschaft Sant'Egidio von allen Seiten entgegenschlug. 1914 ging mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers und seiner Frau in Sarajevo das lange 19. Jahrhundert zu Ende. Es wäre zu schön, wäre das Friedenstreffen 2012 in Sarajevo der Anfang vom Ende des langen 20. Jahrhunderts auf dem Balkan gewesen.
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