Katholischer Theologe, Ludwig-Maximilians-Universität, München
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Das Wort Gerechtigkeit weckt zunächst die Erinnerung an Definitionen und Vorstellungen von Gerechtigkeit, die in der Philosophie entwickelt worden sind. Am bekanntesten ist wahrscheinlich die Definition „suum cuique tribuere“, „jedem das Seine zukommen lassen“. Das Problem besteht in der präzisen Bestimmung dessen, was mit „das Seine“ gemeint ist. Oder man denkt an D. Humes Formel, Gerechtigkeit sei „the greatest happiness of the greatest number“. Oder man spricht ganz abstrakt von Gerechtigkeit als einem formalen Prinzip, das das Recht aller Menschen ermöglicht.
Wenn wir uns dem Neuen Testament – unserem Thema – zuwenden, ist von vornherein ein zweifaches festzustellen. Das Neue Testament fasst bei seinem Reden von Gerechtigkeit das Verhältnis des Menschen zu Gott mit ins Auge. Und es betrifft zunächst den einzelnen Menschen in seiner Individualität, in seinem individuellen Verhältnis, Leben und Tun. Das heißt nicht, dass das, was das Neue Testament über Gerechtigkeit sagt, keine Bedeutung für die Allgemeinheit, für die Gesellschaft, sogar für den Staat besitzt. Aber es lässt sich daraus kein bestimmtes System, keine systematische Lehre entfalten, wohl aber Prinzipien, prinzipielle Anstöße, die in die Allgemeinheit im positiven Sinne weiterwirken können und sollen.
Die Besonderheit des neutestamentlichen Gerechtigkeitsverständnisses wird sofort klar, wenn ich – etwas überspitzt formuliert – sage: Gerechtigkeit nach dem Neuen Testament ist die Vergebung der Sünden. Der neutestamentliche Mensch, der Christ, strebt danach, vor Gott ein Gerechter zu sein, vor Gott als Gerechter anerkannt zu werden. Dies ist schon jüdisches Selbstverständnis. Der Apostel Paulus hat es uns vermittelt. Letztlich bedeutet es, dass ich erst einmal mit meinem Leben im Gereicht Gottes bestehen kann – der Begriff Gerechtigkeit stammt ja aus der Jenseitssprache – dass mein Leben als Ganzes gelingt, oder wenn es fragmentarisch bleibt, mir Vergebung geschenkt wird.
Vergebung der Sünden ist uns geschenkt durch Jesus Christus. Gelingendes Leben ist ermöglichtes Leben. Es ist uns ermöglicht durch den Glauben an ihn. Zu ihm, in seinem Kreuz, ist Gerechtigkeit für uns erschienen (Röm 3,21). Zu ihm, im Blick auf ihn, auf sein Wort, auf sein Beispiel sollen wir unser Leben gestalten, können wir ein Leben als Gerechter führen, durch den Glauben, sola fide. „Ihm, der keine Sünde kannte, hat Gott für uns zur Sünde gemacht, damit Gerechtigkeit Gottes würden in ihm“ (2Kor 5,21).
Glaube, der zur Gerechtigkeit führt, ist zunächst Vertrauen, so wie die Kranken, die sich im vertrauenden Glauben an Jesus wandten und geheilt wurden. Aber es ist mehr als dieses. Es ist inhaltlich bestimmter Glaube, Glaube an Jesus, den Christus und Gottes Sohn, sein Kreuz und seine Auferstehung, Glaube an das ewige Leben. Und es ist Glaube, der sich im Leben und Sterben bewährt, der Zeugnis gibt (Maximilian Kolbe, Mutter Theresa).
Wenn Gerechtigkeit Gottes Vergebung der Sünden ist oder diese zum Ziel hat, so besteht nach neutestamentlichem Verständnis Gerechtigkeit, die von Menschen geübt wird, die an Christus glauben, darin, dass sie das Empfangene weitergeben. Die Gerechtigkeit bewährt sich, zeigt sich in der Liebe. Als solche, die Vergebung empfangen haben, sollen sie Vergebung weitergeben. Als solche, die angenommen worden sind, sollen sie bereit sein, andere anzunehmen, insbesondere die Nichtangenommenen, die am Rand der Gesellschaft stehen, die Deklassierten und Unterprivilegierten. So ergibt es sich nahezu logisch, dass als das zentrale Gebot des Neuen Testaments, das Kriterium sittlichen Handelns, das Zentrum der Ethik, das Liebesgebot angegeben wird. „Denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren und was sonst an Geboten da ist, das wird in diesem Gebot zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, sagt Paulus in Röm 13,8f.
Jesus fasst seine sittliche Weisung zusammen bekanntlich im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,29-31 parr). Das heißt, er tut Folgendes. Er verbindet das Gebot der Gottesliebe, das durch das „Schema Israel“ (Dtn 6,4f) in Israel eine ganz zentrale Bedeutung besaß (und auch im Tempelkult), mit einem Gebot, das in Lev 19,18 an beiläufiger Stelle steht. Nach Mt 22,40 hängt an diesem Doppelgebot das ganze Gesetz und die Propheten. Es ist umstritten, ob es im Judentum vergleichsweise Parallelen gab (TestIssachar 5,2; Philo von Alexandrien, de virtutibus 51,95, erhebt Menschenfreundlichkeit und Gerechtigkeit einerseits und Gottesverehrung und Frömmigkeit andererseits zu den Grundlehren sittlichen Verhaltens).
Die Frage, wer der Nächste sei, wurde diskutiert. Gehört auch der Fremdling im Land dazu (der Einwohner mit Migrationshintergrund)? Die Antwort Jesu findet sich im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30-35). Der Nächste ist jener, der an meinem Wege liegt und auf meine Hilfe angewiesen ist, unabhängig von seinem Stand, seiner kulturellen und sozialen Zugehörigkeit.
S. Kierkegaard hat das Gebot der Nächstenliebe missverstanden. Er übersetzt: „Du sollst seinen Nächsten lieben als dich selbst“, das heißt, den Nächsten an die Stelle meines Ich setzen. Wir wissen heute, dass eine solche Forderung aus psychologischen Gründen versagt, untauglich ist. Die Annahme der eigenen Person ist die Voraussetzung dafür, dass ich den Nächsten annehme und aufnehme. Sie befähigt mich, meine Phantasie, den Nächsten voll wahrzunehmen, mich in seine Situation zu versetzen und hineinzubegeben, im Sinn der goldenen Regel: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“ (Mt 7,12).
Als Höhepunkt der neutestamentlichen Ethik gilt das Gebot der Feindesliebe (Lk 6,27 par). Sie hat Parallelen in asiatischen Religionen, im Buddhismus (Majjhima-nikāya 21) und im Taoismus. Lao-tzú fordert sie mit den Worten: „Feindseligkeit ist mit Wohlwollen zu beantworten“.
Ich schließe mit einer Frage, die auch mit dem viel diskutierten Problem zusammenhängt, ob die rigorosen Forderungen der Bergpredigt überhaupt erfüllbar sind – faktisch würden und werden sie weitgehend nicht erfüllt –: Ist es möglich, ist ein Fall denkbar, dass sie Liebe die Gerechtigkeit verletzt? Ich denke etwa an den älteren Sohn im Gleichnis vom verlorenen Sohn, der Gerechtigkeit für sich einfordert gegenüber der Liebe, die der Vater dem verlorenen Sohn schenkt (Lk 15,29f). |