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1 Декабря 2016

WÜRZBURG

Wie Joaquin Martinez dem elektrischen Stuhl entkam

 
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Am weltweiten Aktionstag gegen die Todesstrafe, am 30. November, war auch die Würzburger Festung wieder grün angestrahlt – als Zeichen für Menschlichkeit und Menschenrechte. 2000 Städte weltweit machten bei diesem Aktionstag mit, den die christliche Gemeinschaft Sant‘ Egidio ins Leben gerufen hat. Sie hat auch den Ex-Todeskandidaten Joaquin Martinez nach Franken eingeladen und veranstaltet mit ihm Vorträge in Schulen. Im Gespräch erzählt er von seiner Zeit im Todestrakt.

Frage: Sie lebten als junger erfolgreicher Geschäftsmann in New York. Dann wurden Sie zum Tode verurteilt. Wie kam es dazu?
Joaquin Martinez: Ich wurde zu Unrecht beschuldigt, zwei Menschen erschossen zu haben. Ein junges Paar aus Florida. Meine Exfrau hatte die Polizei verständigt und mich mit der Tat in Verbindung gebracht. Wir waren in einem schwierigen Sorgerechtsstreit und sie war wohl sehr wütend auf mich. Trotz unzureichender Beweise wurde ich verhaftet und war über fünf Jahre hinter Gittern. Drei davon im Todestrakt.

Wie haben Sie die Zeit als Unschuldiger im Todestrakt des US-Gefängnisses erlebt?
Martinez: Ich weiß nicht, wie es ist, schuldig zu sein. Aber als ich im Todestrakt ankam, dachte ich sofort: Ich bin für etwas hier, das ich nicht getan habe. Und sie töten mich dafür. Ich hätte niemals gedacht, dass ich zum Tode verurteilt werden würde. Aber als ich im Todestrakt ankam, hatte ich plötzlich unglaubliche Angst. Wie konnte das alles passieren? Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken.

Welche Erfahrungen haben Sie unter Verbrechern und Mördern gemacht?
Martinez: Ich war am schlimmsten Platz im ganzen Gefängnis. Zwischen Vergewaltigern und Serienkillern. Einen Insassen nannten sie „Prediger“. Er hatte Ärzte und Krankenschwestern umgebracht und tat es seiner Ansicht nach im Namen Gottes. Ein weiterer Häftling hatte Studenten aus Florida auf dem Gewissen. Er handelte im Auftrag des Teufels, wie er beteuerte. Das waren nicht einfach Mörder. Das waren psychisch kranke Menschen. Es war verrückt, deren Geschichten zu hören und es erschien mir nicht real, als Unschuldiger dort zu sein.

Hatten Sie während der drei Jahre im Todestrakt überhaupt noch Hoffnung?
Martinez: Im ersten Monat im Hinrichtungstrakt habe ich meinen Glauben verloren. Ich war wütend auf alles und jeden. Später half mir der Glaube an Gott aber, nicht verrückt zu werden. Meinen Eltern und Unterstützern aus Spanien und anderen Ländern ist es gelungen, fast eine Million Dollar zu sammeln. Mit diesem Geld wurden sehr gute Anwälte finanziert. Sie machten die Berufung und die Wiederaufnahme des Prozesses überhaupt erst möglich. Der ganze Prozess war für mich dennoch ein einziger Scherz.

Waren Sie brutaler Gewalt ausgesetzt?
Martinez: Gewalt ist sehr typisch im Gefängnis. Die Wärter waren hart. Sie mussten sich für das System und gegen die Häftlinge einsetzen. Am ersten Tag wurde ich geschlagen. Schläge auf den Rücken, sie zogen mir meine Kleider aus, bis ich komplett nackt war. Sie schlugen mir auch ins Gesicht. Danach wurde ich nicht mehr geschlagen.

Nach drei Jahren im Todestrakt wurden Sie aufgrund der Beweislage doch noch für unschuldig erklärt und entlassen. Wie hat sich das angefühlt?
Martinez: Es war wie eine Wiedergeburt. Ich habe drei Leben. Eines vor meiner Verhaftung, eines während der Zeit im Todestrakt und eines danach. Davor hatte ich ein elitäres Leben. Ich war arrogant, konnte mir jedes Restaurant leisten. Wenn ein Glas schmutzig war, bekam ich ein neues. Im Gefängnis gab es keine Gläser. Plastiklöffel zu jeder Mahlzeit. Orangene Häftlingsuniform. Ich konnte meine Kleider nicht wechseln, wie ich es wollte. Diese Dinge machten mich demütig und bescheiden. Auch noch 15 Jahre später. Ich schätze seitdem die kleinen Dinge des Lebens. Ich schätze die Gesellschaft, die ich in meiner Zelle nicht hatte. Ich habe über fünf Jahre keine Regentropfen gespürt. Ich laufe, ich schaue mich um, ich atme die Luft. Ich weiß, dass ich wieder am Leben bin. Das ist unbeschreiblich und ich danke Gott dafür.

Überwiegt im Nachhinein nicht die Wut?
Martinez: Es ist eher ein Gefühl des Vergebens und des Aufbrechens. Wenn ich zurückblicke, dann war die Zeit im Gefängnis ein Lernprozess für mich. Ich denke, dass alles einen Sinn hat. Ich habe viel über das Leben gelernt. Ich blicke nicht mit Hass zurück. Meine Exfrau hat gegen mich ausgesagt. Die Polizei nannte mich einen Killer, sie sagten, ich komme nie wieder nach Hause. Im Nachhinein habe ich trotzdem keinen Platz für Hass. Ich habe mittlerweile sieben Kinder. Zwei aus erster, fünf aus zweiter Ehe. Das sind die Dinge im Leben, die wertvoll sind. Es gab eine Zeit, da hatte ich meine Hoffnung verloren. Ich dachte, ich werde sterben. Jetzt bin ich glücklich über alles, was kommt.

Gab es eine Entschädigung für die Haftzeit?
Martinez: In Florida bekam ich ein Busticket, mit dem ich überall in Amerika fahren kann und hundert Dollar. Ich akzeptierte beides nicht. Was sind hundert Dollar und ein Busticket, für das, was ich erlebt habe.

Welche Erlebnisse werden Sie niemals vergessen?
Martinez: Im Todestrakt träumte ich häufig von meiner Familie. Als ich aufgewacht bin, sah ich die Wand und die Gitterstäbe in der Zelle und fing an zu weinen. Heute träume ich noch oft von der Todeszelle. Wenn ich aufwache, dann blicke ich schlagartig zum Fenster. Ich kontrolliere mein Armband, um sicher zu sein, dass ich in Freiheit bin. Seit meiner Freilassung habe ich dieses Armband nicht mehr abgelegt. Es ist meine Versicherung dafür, dass ich nicht mehr im Gefängnis sitze.

Welche Meinung haben Sie nach all den Jahren zur Todesstrafe?
Martinez: Ich sehe darin keinen Sinn mehr. Ich sah das früher ganz anders. Ich dachte, den Familien der Opfer gehe es besser, wenn der Täter getötet wird. Ich glaubte wirklich an den Sinn der Todesstrafe. Als ich dann das Schicksal von meinem Freund Frank Smith erlebte, änderte ich meine Meinung. Er wurde wegen Vergewaltigung und Ermordung eines neunjährigen Mädchens zum Tode verurteilt. Er saß 20 Jahre in der Todeszelle und wurde fast verrückt. Niemand glaubte ihm, dass er unschuldig war. Irgendwann starb er an Krebs. Nach seinem Tod bewies ein DNA-Test, dass er tatsächlich unschuldig war. Sie fanden auch den wahren Täter. Das werde ich nie vergessen.

Was antworten Sie Familien von Opfern, die Vergeltung fordern?
Martinez: Mein eigener Vater starb bei einem Unfall, den ein 17-Jähriger leichtsinnig verschuldet hatte. Ich glaube, dass es nichts bringt, Menschen sterben zu sehen, die für den Verlust eines Angehörigen verantwortlich sind. Das ändert nichts an den Gefühlen, die ich für meinen Vater habe. Er war alles für mich. Viele Menschen denken, dass die Todesstrafe etwas ausgleicht. Aber das stimmt nicht. Das war die größte Lehre, die ich aus meinem Leben gezogen habe. Die Todesstrafe hat keinen Sinn. Ich habe dem jungen Mann vergeben und ich fühle mich besser damit.

Warum ist Ihr Engagement, gemeinsam mit Sant‘ Egidio, auch in Deutschland wichtig? Ein Land, in dem es keine Todesstrafe gibt.
Martinez: Weil die Todesstrafe viel mehr repräsentiert als nur die Exekution von Menschen. Todesstrafe bedeutet Hass, Gewalt und zu wenig Mitgefühl. Als ich im Todestrakt saß, sagte mein Vater: „Heute ist mein Sohn zum Tode verurteilt, morgen kann es aber auch dein Sohn, dein Vater oder dein Nachbar sein.“ Er hatte recht. Als ich 2001 in der Todeszelle saß, war ich der erste Europäer in Nordamerika, der wieder entlassen wurde.

Nur ganz wenige Spanier weltweit sind überhaupt zum Tode verurteilt. Dennoch kann es jedem passieren. Stellen Sie sich vor, Sie machen Urlaub und plötzlich werden Sie verhaftet und zu Unrecht verurteilt. Es ist nicht unmöglich und ich versuche das zu bekämpfen. Ich wohnte in New York, hatte ein Leben in Wohlstand. Stellen Sie sich vor, das passiert armen Menschen.


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