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9 August 2017

Immigration, Menschenhändler, Menschenrechte, die libysche Frage. Ein Interview mit Andrea Riccardi in La Stampa

Riccardi: Alle haben die Pflicht, Menschenleben zu retten - „Auch NGOs, die nicht unterschreiben, sind legitimiert, Menschenleben zu retten“

 
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Der ehemalige Minister Riccardi: Quoten und humanitäre Korridore werden benötigt

Andrea Riccardi ist nicht nur der gebildete ehemalige Minister für internationale Zusammenarbeit in der Regierung Monti. Der Gründer der Gemeinschaft Sant’Egidio arbeitet seit einem halben Jahrhundert an der Lösung von mehr oder weniger blutigen Konflikten, die zahlreiche Migrationsbewegungen hervorrufen. Dazu gehört auch der historische Frieden für Mosambik, zu dessen endgültiger Abfassung er einen entscheidenden Beitrag geleistet hat.

Die italienische Regierung ist gespalten in der Frage, was Aufnahme bedeutet. Was ist die Bedeutung?
„Abgesehen von der Polemik stehen wir mehr vor der Frage des Gleichgewichts als der Aufnahme. Wir erleben ein epochales Phänomen bei der Massenbewegung aus dem Süden der Welt und müssen sehr intelligent reagieren. Eine Politik der Verschlossenheit, wie Länder im Osten sie fordern, ist gegen die Geschichte gerichtet, auch weil wir aus demographischen Gründen diese Menschen brauchen. Seit Jahren gibt es keine Quoten für Migranten mehr (außer saisonal), da ist eine große Lücke, denn Quoten in Verbindung mit humanitären Korridoren mindern ein wenig den Migrationsdruck und tragen zum Wohlstand in Italien bei. Meine Position ist nicht Gutmenschentum, sondern Realismus. Natürlich befindet sich Italien in einer schwierigen Lage, da es einen sehr schwerwiegenden Mangel an europäischer Solidarität gibt, was das EU-Projekt entwertet. Was der Bewegung aus Afrika mit einer Bevölkerung betrifft, die im Jahr 2100 bei 40% der Weltbevölkerung liegt, kann kein Land allein eine Antwort finden, sie muss europäisch sein.“
 
An welche Antwort denken Sie?
„Einerseits gibt es legale Korridore und andererseits die Bekämpfung des Menschenhandels; hier gibt es eine vielfältige Komplizenschaft, denn heute ist dieser Handel eine milliardenschwere Krake, vergleichbar mit der Mafia.“
 
Können wir Tripolis vertrauen, wenn wir an die Haftzentren denken?
„Europa hat den historischen Irrtum begangen, den Krieg in Libyen zu befürworten und dabei das Projekt der Beseitigung von Gaddafi zu unterstützen, ohne ein Zukunftsprojekt zu haben. Das Ergebnis ist die Aufsplitterung des Landes. Jetzt muss dringend der Frieden in Libyen wiederhergestellt werden, dabei müssen aber alle heute in Libyen anwesenden Subjekte einbezogen werden, zunächst die Regierung von al-Sarraj. Es geht um den Zusammenhalt des Territoriums, das Leben der Libyer und der Migranten.“
 
Dürfen wir die Lage der in Libyen gefangenen Migranten ignorieren?
„Das ist ein sehr schwieriges Problem, einige von ihnen sind Flüchtlinge. In vielen Teilen Libyens herrschen schreckliche Zustände. Wenn Organisationen wie die IOM und UNHCR nicht hineinkommen und kontrollieren, ist die Lage dramatisch. Wir haben besorgniserregende Zeugnisse. Ich habe nicht den Eindruck, dass diejenigen, die in Libyen zu den Waffen greifen, die Kultur der Menschenrechte besitzen.“
 
Dann gibt es die Herkunftsländer…
„Wir müssen aufhören, nur auf die nächstliegende Grenze zu schauen. Niger ist sehr wichtig. Italien hatte im Verlauf der Jahre die afrikanische Lage im Sahel und in der Sahara vernachlässigt. Nun ist es anders. Auf dieser Ebene muss gearbeitet werden, denn dort existieren Staaten und dort können die Strömungen auf menschliche Weise eingedämmt werden. Man muss sich mit den afrikanischen Ländern befassen und sie durch Hilfen, durch strukturelle und diplomatische Maßnahmen beteiligen, um der Zukunft der Jugendlichen in ihren Ländern neue Perspektiven zu geben.“
 
Sie fordern europäische Zusammenarbeit. Doch bewegen sich die Beziehungen zwischen Frankreich und Italien nicht auf eine neue Art des Wettkampfes zu?
„Zwischen Frankreich und Italien erkenne ich eine regressive Entwicklung. Keiner von beiden kann es in Afrika allein schaffen. Das Problem ist die Kurzsichtigkeit, dann die Beeinflussung durch die öffentliche Meinung, der man nachläuft und die beunruhigt, sodass man letztlich deren Gefangener wird. Es ist der Mut erforderlich, beim Regieren Unpopularität zu riskieren, wie es De Gaulle tat, als er Algerien die Unabhängigkeit gewährte. Angesichts der Herausforderung mit einer sehr langen Dauer müssen wir für den Wiederaufbau eines libyschen Subjektes arbeiten.“
 
Vor dreißig Jahren war humanitäres Handeln die Blume im Knopfloch des Westens, heute ist es scheinbar fast eine Schande. Was ist passiert?
„Die Globalisierung hat dazu geführt, dass wir mehr auf uns schauen und weniger auf die Anderen achten. Das ist ein schwerer Irrtum, denn in der globalen Welt sind wir mehr vernetzt. Selbstbezogenheit brandmarkt humanitäres Handeln als aufklärerische Anwandlung, das ist schade, denn die Übereinkunft von Katholiken und solidarischen Laizisten entspricht der von zwei der wichtigsten europäischen Kulturakteuren des 20. Jahrhunderts. Populisten und Anhänger des Hoheitsdenkens berücksichtigen nicht das große Problem der Hilfe für den Nächsten, um seine Probleme zu lösen, bevor sie zu unseren werden. Daher hoffe ich sehr auf den Araber Ghassam Salamé, der es mit seiner Kultur schaffen kann.“
 
Was halten sie vom Verhaltenskodex, den einige NGOs akzeptiert haben und andere nicht?
„Die historische Politik Italiens muss fortgesetzt werden, die im Respekt vor den internationalen Gesetzen Hilfe geleistet hat. Es müssen auch andere Prozesse eingeleitet werden, die Wanne wird mit vielen Eimern geleert. Es müssen Information und Mittel investiert werden, um den erschrockenen Italienern zu erklären, was vor sich geht. Heute fehlt es an Überlegungen, die einst von den Parteien angestellt wurden, und die Menschen sind Opfer der Geopolitik der Emotionen. Was den Kodex betrifft, ist es richtig, die Beziehungen zwischen Staat und NGO zu kodifizieren. Wer das jedoch nicht akzeptiert, dem darf nicht die Legimitation entzogen werden. Humanitäre Hilfe benutzt ein anderes Lexikon. Sant’Egidio hat sich als eigenständiges humanitäres Subjekt in der Zentralafrikanischen Republik für das Abkommen zwischen der Regierung und den bewaffneten Banden eingesetzt. Wenn der Kodex eine Hilfe ist, um die jeweilige Subjektivität zu respektieren, ist er willkommen: vor allem brauchen wir in diesem dramatischen Mittelmeerraum alle.“
 
Weitere Informationen:
Die Biographie von Andrea Riccardi

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